Dieser Artikel ist quasi eine ausführlichere Fassung des von mir zum Wikipedia-Artikel Fahrdienstvorschrift beigetragenen gleichnamigen Abschnitts. Im Gegensatz zur Wikipedia, wo ich etwas „populärwissenschaftlicher“ formuliert habe, richten sich die folgenden Ausführungen eher an Leute vom Fach. Diese sind auch aufgerufen, mich auf etwaige Fehler hinzuweisen oder klärungsbedürftige Sachverhalte zu kommentieren. Möge die Ausarbeitung lehrreich sein und vielleicht sogar ein wenig unterhalten.

Insgesamt sind die Vorschriften für den Rangierdienst zwischen FV-NE und 408 weitgehend vereinheitlicht. Wer die Abläufe nach einer der beiden FVs gelernt hat, kann mit wenig Aufwand auch die andere Vorschrift meistern. Es gibt nur wenige wirklich materielle Unterschiede. Der Rest sind Formulierungsverschiedenheiten, manche davon sehr subtil, und manches ist eher Wortklauberei oder der Abteilung „das kann doch nicht der Wille des Vorschriftengebers sein“ zuzuordnen. Ich konzentriere mich an dieser Stelle vorrangig auf die Sicht des Rangierpersonals, weniger auf die des Weichenwärters. Also gehen wir es mal an:

Das wichtigste zuerst: Das Baugleis

Beide Fahrdienstvorschriften kennen zwar den Begriff des Baugleises, und in beiden Fällen ist die Folge, dass statt Sperrfahrten nun Rangierfahrten stattfinden. Unter FV-NE war’s das dann aber auch. Für Rangieren im Baugleis gelten dort keine Sonderregeln, soweit sich der EBL keine überlegt. Die DB Netz hat genau das getan und an verschiedenen Stellen in der 408 niedergelegt. Offensichtlich will man damit ein höheres Schutzniveau für die am Baugleis beschäftigten Personen erreichen.

0801 Abschn. 2 | § 51 Abs. 8 – Übertragung von Aufgaben auf den Rangierbegleiter

Die 408 fordert zur routinemäßigen Aufgabenübertragung einen Rangierplan, Dienstplan oder Betra. Die FV-NE spricht dagegen von einer „Anordnung“. Damit wird schlichtweg den anderen Organisationsformen der DB und der NE-Bahnen Rechnung getragen. Eine Anordnung könnte meiner Meinung nach eine beliebige weisungsbefugte Stelle abgeben, unter der 408 braucht man dagegen einen Rangierplanersteller, Dienstplan-Ersteller oder Betra-Ersteller, was den Personenkreis ja etwas einschränkt.

0801 Abschn. 3 | § 51 Abs. 9 – Platz des Tf bei der Fahrwegbeobachtung

In der FV-NE fehlt an dieser Stelle der Satz „Obliegt Ihnen als Triebfahrzeugführer die Beobachtung des Fahrwegs und der Signale, müssen Sie sich bei Triebfahrzeugen mit zwei Führerräumen im vorderen Führerraum aufhalten“. Das bedeutet im Umkehrschluss: Der NE-Tf kann prinzipiell auch hinten sitzen.

0801 Abschn. 4 | § 51 Abs. 12 – Bestimmung von Rangierern zur Signalweitergabe

Hier sind zwischen den beiden FV kurioserweise die Kompetenzen anders verteilt. Wenn der Tf Schwierigkeiten bei der Aufnahme der Rangiersignale hat, bestimmt unter der 408 der Rangierbegleiter zusätzliche Rangierer, damit sie Stille-Post-mäßig die Rangiersignale weitergeben. Unter FV-NE werden dieselben Rangierer aber nicht vom Rb, sondern vom Tf vergattert.

0811 Abschn. 1 | § 52 Abs. 1 – Verzicht auf Verständigung des Weichenwärters

Die Deutsche Bahn kennt hier ein paar mehr Fälle als die NE, in denen vor Fahrzeugbewegungen der Ww nicht verständigt werden muss. Dies sind: Beidrücken durch Förderanlagen oder rechnergesteuerte Loks, Nachfahren von Tfz aus Einfahrstumpfgleisen (dies muss nach 0811 3 Abs. 2b ohnehin durch ÖRil  gesondert erlaubt sein), und das Baugleis. Unter FV-NE gäbe es eigentlich keinen zwingenden Grund, das Unterlassen der Verständigung nicht zu erlauben, allerdings scheint dafür schlicht kein großflächiger Bedarf zu bestehen. Nur die DB hat auf Hochleistung getrimmte Kopfbahnhöfe und Rangierbahnhöfe.

0811 Abschn. 2 | § 52 Abs. 3 – Fahrbereitschaftsprüfung

Bei buchstabengetreuer Auslegung der Vorschriften wird es hier wieder kurios. Und zwar fordert die 408 „Außentüren von Reisezugwagen müssen geschlossen sein“. Die FV-NE kapriziert sich dagegen nur auf „seitwärts aufschlagende Türen von Reisezugwagen“. Nach innen oder sonstwo aufschlagende Türen dürften nach dieser Lesart also durchaus während der Fahrt offenstehen.
Umgekehrt ist die 408 bei der Behandlung blinder Passagiere auf Zusatzanlagen etwas lasch; die FV-NE fordert hier kategorisch „Personen, die sich in den Fahrzeugen befinden, müssen aussteigen“. Unter 408 müssen vor der Fahrzeugbewegung dagegen nur die Personen aussteigen, „die sich zum Be- oder Entladen im Wagen befinden“. Alle anderen dürften demnach drinbleiben und mitfahren.

Insgesamt sicher eine extreme Lesart. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die feucht-fröhliche Mitfahrt einer Ladung Ladearbeiter in Richtung Bahnhofskneipe („nicht zum Be- oder Entladen im Wagen“) durch anderes mitgeltendes Regelwerk erfolgreich unterbunden wird. Verbuchen wir es mal besser unter „Spaß mit der Fahrdienstvorschrift“…

0821 Abschn. 5 | § 53 Abs. 2 – Rangieren mit Ansage des freien Fahrwegs

In erster Näherung gilt: Dieses Verfahren gibt es auf NE-Infrastruktur nur dann, wenn der EBL zusätzliche Weisungen dazu erlassen hat. Nur wenn diese Anordnungen vorliegen kann auf NE mit mehr als 25 km/h rangiert werden.

0821 Abschn. 6 | § 53 Abs. 4 – Hemmschuhe auf Gleiswaagen

Hier ist interessant, dass die 408 es theoretisch erstmal erlaubt, mit Hemmschuhen in der Nähe von Gleiswaagen zu hantieren – soweit es nicht in den ÖRil verboten ist. Die FV-NE will den teuren Gleiswaagen besser nicht zuviel zumuten und verbietet den Hemmschuh in deren Nähe vorsorglich komplett.

0821 Abschn. 11 | § 53 Abs. 7 – Verschieben

Entsprechend der anscheinend höheren Bedeutung des Verschiebens von Fahrzeugen bei den NE-Bahnen sind die Regelungen zum Verschieben in der FV-NE umfangreicher als in der 408.

0822 Abschn. 2 | § 54 Abs. 6 – Signale am Fahrweg

Bei den für die Rangierfahrt gültigen Signalen besteht ein kleiner Formulierungsunterschied: Die 408 spricht von „ortsfesten Signalen“, die FV-NE dagegen nur von „Haupt- oder Sperrsignalen“, die ich als Untergruppe der ortsfesten Signale auffassen würde. Der Unterschied erscheint mir für die Praxis unsinnig. Zwar könnte man überlegen, was einem außer Haupt- und Sperrsignalen noch im Bahnhof an Signalen begegnen könnte, die zu beachten wären – mir fallen da als wesentlicher Fall Lf-Signale mit Kz „1“ oder „2“ ein. Aber wer würde sich denn ernsthaft hinstellen wollen und sagen „Ätsch, für mich gilt unter NE als Rangierfahrt die 10er La im Bahnhof nicht“?

0823 Abschn. 1 | § 55 Abs. 1 – Sicherung von Bahnübergängen

Mysteriöserweise liest man in der aktuellen FV-NE nichts mehr von dem Posten, der bei Ausfall der technischen Sicherung den Bahnübergang sichert. So wie es derzeit da steht, könnte man auf die Idee kommen, einfach Pfeife ziehen und rüber sei genug. Ich habe mehrfach geschaut, ob da nicht doch irgendwo der Posten erwähnt wird. Tatsächlich taucht er zwar im Stichwortverzeichnis noch auf, mit Verweis auf § 44 (8), im Text dieses Paragraphen ist er aber spätestens seit der Berichtigung B13 nicht mehr explizit enthalten. Allenfalls könnte man die Generalklausel „…ist der Bahnübergang durch das Zugpersonal zu sichern“ so interpretieren, dass das Zugpersonal Posten stehen muss. Eine wie ich finde höchst unglückliche Formulierung, denn sie kann alles und nichts bedeuten. Auf den Posten tatsächlich zu verzichten geht allerdings nicht so einfach. Die EBO sagt: Wenn es Personal gibt, das den Posten machen kann, dann muss auch ein Posten gestellt werden. Pfeife und rüber geht nur, wenn der Tf ganz alleine unterwegs ist. Soweit EBO § 11 Abs. 19. Die 408 handelt diese ganze Posten-Geschichte wesentlich unmissverständlicher ab.

0825 Abschn. 1 | § 56 Abs. 1 – Gleise zum Ablaufen oder Abstoßen

408 und FV-NE nähern sich dem Problem, wo Abstoßen und Ablaufen erlaubt werden soll, von zwei unterschiedlichen Seiten. Unter der 408 ist beides erstmal grundsätzlich verboten, sofern die Gleise nicht explizit in den ÖRil dafür freigegeben sind. Die FV-NE erlaubt diese Rangierbewegungen dagegen erstmal grundsätzlich, sofern die Gleise nicht dem Katalog in § 56 Abs. 1 unterliegen. Um in Gleise mit Fahrzeugen an denen gearbeitet wird ablaufen/abstoßen zu lassen braucht man unter 408 erstmal eine Ausnahmegenehmigung per ÖRil, während sich die FV-NE diese zusätzliche Bürokratie spart und nur auf zusätzliche „besondere Sicherungsmaßnahmen“ abhebt.

0825 Abschn. 5 | § 56 Abs. 6 – Ablaufen langer Drehgestellgüterwagen

Die 408 hat gebrauchsfertige Regeln für das Ablaufen von Drehgestellgüterwagen mit Innenachsstand von mehr als 14 m niedergelegt. Man braucht nur dann die Öril, wenn man trotz unwirksamer Sperreinrichtungen an den Weichen Ablaufen lassen will oder eine vorhandene automatische Laufwegsteuerung nutzen will. Unter FV-NE muss der EBL dagegen das Ablaufen dieser Wagen überhaupt erstmal per SbV freigeben, da es nämlich sonst verboten ist.

0831 Abschn. 1 | § 57 Abs. 1 – Fahrzeuge ohne wirkende Wagenbremse bewegen

In der FV-DB ist für den Standardfall eines Bahnhofs ohne wesentliches Gefälle niedergelegt, wieviele Achsen man bewegen darf, ohne die Fahrzeuge an die Luft zu nehmen. Es sind 22 Achsen für Köf III und 40 Achsen für Köf 360 und größer. Wer schonmal mit einer Köf rangiert hat weiß, dass 22 Achsen unter Umständen reichlich bemessen sind. So eine Rangierabteilung kann schon kräftig schieben, wenn man sie wieder anhalten möchte. In der FV-NE ist dagegen nichts standardmäßig festgelegt. Stattdessen will das Regelwerk, dass der EBL ein wenig rumrechnet und Bremslastentafeln für jede eingesetzte Tfz-Bauart aufstellt. Für den Fall einer typischen Köf III, ebenem Bahnhof mit 400 Meter Bremsweg und Wagen mit maximal schwerer Achslast kommen nach dem FV-NE-Formelwerk übrigens 18 Achsen heraus. Je angefangene 14 Achsen muss ein weiteres Fahrzeug an die Druckluft genommen werden.

Die FV-NE enthält keinen Passus analog 0831 Abschnitt 1 Absatz 2 (wenn Güterwagen in der Abteilung sind und nicht alle Wagen an der HLL hängen, ist auf DB-Gleisen die Bremsstellung G einzustellen).

0831 Abschn. 1 | § 57 Abs. 6 – Abstoßen/Ablaufen ohne bediente Handbremsen

Überraschung – hier ist mal nicht bloß die Formulierung anders, sondern die Zahlen sind zwischen den beiden FVs unterschiedlich: Unter FV-NE dürfen jeweils 2 Achsen mehr ohne besetzte Handbremse abgestoßen und ablaufen gelassen werden. Warum die DB, die ja sonst auch kein Kind von Traurigkeit ist, sich hier weniger traut als die NE-Bahnen, würde mich sehr interessieren.

0831 Abschn. 2 | § 57 Abs. 8 – Auflaufen von hemmschuhgebremsten Fahrzeugen

Die 408 ist hier eindeutig: Wenn mit Hemmschuhen gebremst wird, dürfen sich die Puffer der sich bewegenden Fahrzeuge und eventueller stehender Fahrzeuge unter keinen Umständen küssen. Punkt und aus. Die FV-NE lässt dem EBL hier eine Hintertür, durch die er dazu optieren kann, dass „bei günstigen örtlichen Verhältnissen“ die Wagen in seinem Bahnhof mit langsamer Schrittgeschwindigkeit auflaufen dürfen.

0901 Abschn. 1 | § 60 Abs. 1 – Übergang von Rangierfahrt in Zugfahrt

Die FV-NE hat hier vergleichsweise flexiblere Regeln, was Übergänge von Zugfahrten in Rangierfahrten und umgekehrt ohne Halt angeht. So besteht unter FV-NE die Möglichkeit, dass der Übergang Rangierfahrt-Zugfahrt nicht am Hauptsignal stattfinden muss, sondern an einer in der SbV genannten Stelle. Das macht Sinn, denn der typische NE-Bahnhof hat schlicht gar keine Hauptsignale.