Die Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes (kurz EUB) hat einen Bericht zum Unfall in Berlin-Karow am 16.4.09 veröffentlicht. Im Bahnhof Karow war ein Regionalzug auf einen vorausfahrenden Güterzug aufgefahren. Als mitursächlich für den Unfall wurde auch die Nichtbeachtung eines Satzes aus der Fahrdienstvorschrift identifiziert, der sich etwas schamhaft unter „Sonstige Unregelmäßigkeiten im Bahnbetrieb“ versteckt. Es handelt sich um 408.0591 (1):

Wenn Sie als Triebfahrzeugführer erkennen, dass Ihr Zug in einen Fahrweg eingelassen wird, der dem Fahrplan oder dem Auftrag des Zuges nicht entspricht, müssen Sie den Zug sofort anhalten und die Weisung des Fahrdienstleiters einholen.

Der Knackpunkt in Karow war nun, dass der Tf des Güterzuges am ESig Karow zwar die drohende Fehlleitung bemerkte und auch Verbindung zum Fdl aufnahm, aber nicht sofort anhielt. Stattdessen fuhr er erstmal weiter bis in den Bahnhof, da die Fehlleitung nur die Ausfahrweichen betraf.

Wo liegt jetzt hier die Betriebsgefahr? Sie ist nicht unbedingt sofort offensichtlich. So lange der Fdl nichts machte, war der Güterzug auf einer gesicherten Fahrstraße unterwegs. Das Unheil nahm seinen Lauf, als die Fahrstraße unter dem noch fahrenden Gz aufgelöst wurde. Bedingt durch die besondere örtliche Situation in Karow – das Stellwerk hatte keine selbsttätige Gleisfreimeldeanlage, und die Anordnung der Gleisschaltmittel konnte man mindestens „interessant“ nennen – wurde es möglich, eine Durchfahrt durch den Bahnhof einzustellen, obwohl der Gz sich noch in der Ausfahrt befand. Ob dem Fdl der genaue Standort des Gz nicht bewusst war, oder ob er schlicht daneben griff, weiß ich nicht. Jedenfalls war plötzlich von der Einfahrt bis zur Ausfahrt grün. Das wurde verhängnisvoll, weil dem Gz ein durchfahrender Reisezug folgte, der natürlich keinen Grund hatte, dem Fahrtbegriff des Esig Karow nicht zu vertrauen.

Mitursächlich war das Unterlassen des sofortigen Halts bei Fehlleitung deshalb, weil man folgendes was-wäre-gewesen-wenn-Spielchen aufmachen konnte: Bei sofortigem Halt wäre der Gz vermutlich irgendwo in der Einfahrt zum Stehen gekommen, wäre vor allem noch nicht automatisch rückgeblockt worden, und das Stellwerk hätte die Einstellung einer Durchfahrt nicht akzeptiert.

Die eigentliche Unfallursache sehe ich allerdings nicht darin, dass der Güterzug-Tf ein paar Meter zu weit gefahren ist. Man muss als Tf  auch keine Angst haben, dass jeder zusätzliche Meter Bremsweg bei einer Fehlleitung uns einem Auffahrunfall näher bringt. In den meisten Stellwerken dürfte das Szenario Karow nicht möglich sein. Beunruhigend ist allerdings die Vorstellung, dass noch weitere LST-Anlagen im Stile von Berlin-Karow existieren könnten. Wenn man erfährt, was für ein Gurkenstellwerk in Karow gebaut wurde, wird man jedenfalls sehr nachdenklich. Im Zuge des Berliner Pilzkonzepts wurde 2006 in Angermünde ein ESTW errichtet und die elektromechanische Stellwerkstechnik in Karow durch ein Provisorium in Form eines Gleisbild-Containerstellwerks ersetzt. Es musste schnell gehen, wegen Fußball-WM und dem besagten Pilzkonzept. Das Containerstellwerk entsprach zwar der eigentlich recht soliden Bauform GS II, allerdings in einer vereinfachten Variante. Es gab in der Containerversion keinen Weichenselbstlauf, keine Fahrstraßensignalstellung, keine Gleisfreimeldeanlage und keine Einfahrt-/Ausfahrt-Wiederholungssperre. Insbesondere die beiden letztgenannten Einrichtungen hätten den Unfall verhindern können. Man darf wie ich finde mal vorsichtig die Frage stellen, warum so ein Spar-Stellwerk im Jahr 2006 noch genehmigungsfähig war. Stand der Technik sieht anders aus. Vor allem wurde das Provisorium ja offensichtlich zum Dauerzustand. Es ist bis heute im Einsatz.

Wenn man lernen muss, wie die Eisenbahn funktioniert, soll man die Sachen ja strukturieren und sich Brücken bauen. Der Karower Unfall eignet sich da wie ich finde recht gut. Wenn ich an Fehlleitung denke, habe ich jetzt eine Begriffskette „Fehlleitung -> Durchfahrt -> sofort halten“ im Kopf.