Die Serienbauform der deutschen Linienzugbeeinflussung, die L72, wird demnächst 30 Jahre alt. Zu ihrer Entwicklungszeit war sie ein in jeder Hinsicht fortschrittliches System, an der Grenze des damals technisch machbaren gebaut. Die L72 war zwar nicht die erste linienförmige Zugbeeinflussung, aber die erste mit Streckenzentralen in Rechnertechnik, und diejenige, die in Deutschland schließlich von der Bundesbahn auf breiter Front eingeführt wurde.

Ihr technologischer Vorgänger war die Siemens-LZB der Bauform LZB 100. Mit dieser LZB erfolgten 1963 die ersten 200-km/h-Fahrten zwischen Bamberg und Forchheim sowie 1965 die Präsentationsfahrten zwischen München und Augsburg. Aus heutiger Sicht waren es finstere Zeiten. Streckenzentrale und Fahrzeuggerät waren in Transistortechnik mit Ringkernspeichern gebaut.

Wenn man die Geschichte der LZB verstehen will, ist es wichtig zu wissen, wie in Westdeutschland zur Bundesbahnzeit Bahntechnik entwickelt wurde. Da gab es nicht nur die Industrie mit ihren Entwicklungsabteilungen, sondern auch die beiden Bundesbahn-Zentralämter in Minden und München, die über eine gehörige Portion eigene Entwicklungskompetenz verfügten. Im Wechselspiel zwischen BZA und Industrie entstand dann Hochtechnologie. Zusätzlich hatte es Tradition, dass man aus politischen Gründen niemandem in der Industrie wehtat, sondern bei Großprojekten die Konkurrenten gerne zu Konsortien verheiratete, damit jeder etwas vom Kuchen abbekam. Im Bereich der Leit- und Sicherungstechnik waren die zwei großen Spieler schon damals Siemens und Standard Elektrik Lorenz (die spätere Alcatel SEL, heute bei Thales), die jeweils das Vollsortiment vom Stellwerk bis zum Achszähler boten.

Die Streckenzentrale und Streckenausrüstung der zweiten Generation (also L72) würde federführend bei Lorenz entwickelt werden, während man für das neue Fahrzeuggerät (die spätere LZB/I80-Anlage) ein Joint-Venture gründete, dessen Führung eher bei Siemens lag. Hierfür geistert als Firmenname verschiedentlich der Name „SELMIS“ durch die Literatur. Das ist in soweit interessant, als der sichere Rechnerkern des heutigen Lorenz-ESTW L90 ganz zufällig auch den Namen SELMIS trägt. Setzt man dort etwa auf Technik, die in früheren Tagen zusammen mit dem Erzkonkurrenten aus Braunschweig entwickelt wurde? Wäre zumindest Stoff für eine kleine historische Fußnote.

Statt Siemens war auf der Strecke ab 1976 also Lorenz angesagt. Nach einer Tauschaktion konnte mit der LZB-100-Fahrzeuganlage auch auf L72-Strecken gefahren werden. Die neue LZB-80-Anlage wurde erst 1984 fertig. Ihr Kern ist ein sicherer Rechner in 2-von-3-Architektur. In der Urversion handelte es sich um 8-Bit-Hardware. Ab 1991 begann man, diese Fahrzeuganlagen mit zusätzlichen Ortungsrechnern nachzurüsten, da man mit der Genauigkeit der Kreuzungsstellen-Ortung unzufrieden war. An dieser Stelle handelte man sich Ungenauigkeiten von fast 5 Metern ein, weil die LZB-80-Anlage mit einem festen Interrupt-Takt von 70 ms „tickte“. Die neuen Ortungsrechner konnten diese Ungenauigkeit durch eine recht simplen Trick wieder ausgleichen: Ein LZB-Fahrzeug hatte ohnehin meist zwei Empfangsantennensätze, von denen bis dahin aber immer nur einer benutzt wurde. Deren Montageabstand war bekannt. Durch Vergleich der Empfangszeitpunkte konnte über der Kreuzungsstelle die Geschwindigkeit des Triebfahrzeugs ermittelt werden. Zusätzlich konnte  man messen, wie lange das empfangene Telegramm bis zum nächsten Interrupt im Speicher verbleiben musste. Dies erhöhte die Genauigkeit der Wegmessung soweit, dass nur noch die Ungewissheit über den tatsächlichen Raddurchmesser als Fehlerquelle verblieb (diese lag größenordnungsmäßig nur im Zentimeterbereich).

Während auf den älteren LZB-Strecken der LZB-Block mit dem Signalblock deckungsgleich war, hatte man auf den beiden ICE-Neubaustrecken die L72 erstmals mit Teilblock realisiert, so dass LZB-geführte Züge in dichterer Folge fahren konnten, als es die signalgeführte Rückfallebene zuließ. Hierfür war zwingend ein LZB-80-Fahrzeuggerät notwendig. Mit dem Projekt CIR-ELKE ging die nächste Weiterentwicklung einher. Der sogenannte Hochleistungsblock kann bei L72CE sogar kürzer sein als die Zuglänge. Auf der Fahrzeugseite war es zwingend notwendig, alte 8-Bit-Rechner der Bauform LZB 80/8 durch neue 16-Bit LZB 80/16-Anlagen zu ersetzen, damit das Fahrzeug CE-fähig war. Streckenseitig wäre es möglich, eine L72-Strecke ohne Änderungen der Außenanlage auf CE hochzurüsten. Nur der Streckenzentralrechner müsste getauscht werden. Letzter Stand der Technik ist L72CE II. Alle seit 2002 neu in Betrieb genommenen LZB-Strecken entsprechen diesem Standard, die CE I-Pilotstrecke Offenburg-Basel wurde hochgerüstet. CE-fähige Fahrzeuggeräte können auch ohne weiteres auf den allermeisten CE II-Strecken eingesetzt werden. Lediglich auf Köln-Frankfurt und Nürnberg-München ist dies aufgrund besonderer genutzer Funktionen nur mit bestimmter Anlagensoftware möglich.

Durch die lange Zeit seit der Entwicklung wurde die LZB 80 Fahrzeuganlage vom Fortschritt der Rechnertechnik überholt. Auch die flächendeckende Migration von 8 auf 16 Bit-Architektur noch zur Jahrtausendwende konnte nicht verhindern, dass wohl wichtige Bauteile inzwischen von den Herstellern abgekündigt sind. Deshalb haben sich die alten Recken von Siemens und Thales nochmal zusammengesetzt, um eine LZB-80-Anlage auf Basis moderner Technik zu implementieren. Sie trägt den Namen LZB 80E. Gegenüber der Altanlage stellt man fest, dass der neue Rechner nur noch halb soviel Platz im Gestell benötigt. Deshalb wäre Platz, die 80E-Anlage zukünftig um ETCS-Funktionalität zu erweitern.

Stand der Technik sind allerdings nicht auf ETCS hochrüstbare LZB-Anlagen, sondern ETCS-Anlagen mit optionalem LZB Specific Transmission Module. ETCS gilt natürlich als die neue Goldgrube im Zugsicherungsmarkt, und jeder Hersteller der etwas auf sich hält hat inzwischen eine ETCS Level 2 fähige Anlage am Start. So zum Beispiel Bombardier mit der EBICAB 2000, Thales mit der AlTrac 6482, und auch Siemens hat mit der „Trainguard“ eine solche Anlage im Angebot. Man erkennt vielleicht: Die Zeit der Konsortien ist vorbei, bei ETCS kämpft heute jeder für sich, und bei den STM-Modulen für Legacy-Zugsicherungen wie PZB oder LZB möchte man zumindest den Anschein erwecken, dass man das alles selbst auf die Beine gestellt hat. Welche Verflechtungen der Industrie da aber im Hintergrund bestehen, bleibt undurchsichtig.